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Sechs Richtige mit Zusatzzahl

9. Dezember 2020

Milena und Nikolas Migut bringen Obdachlose in Hotels unter – ein Zuhause auf Zeit

BERGSTEDT 20 wohnungslose Menschen haben seit vier Wochen ein festes Dach über dem Kopf. Dank des Vereins StrassenBLUES e.V. und vieler Spender können sie bis Ende März in dem Altonaer Hotel bedpark eine Tür hinter sich zumachen und in einem Bett schlafen – fünf Monate lang für 4.000 Euro pro Person – spendenfinanziert. „So schützen wir die Obdachlosen vor Kälte und Corona und retten gleichzeitig das Hotel im Lockdown“, sagt Nikolas Migut, 1. Vorsitzender von StrassenBLUES e.V.

Von Anja Krenz

„Ist das jetzt wirklich nur für mich?“, fragt der Obdachlose Paddy, als er zum ersten Mal sein Hotelzimmer betritt. Im Bad sagt er: „Ich kann mich jetzt so pflegen, wie ich möchte und zur Toilette gehen, wann ich möchte.“ Diese Sätze zeigen, wie schwierig Hygiene auf der Straße ist und wie sehr Paddy sein Zimmer wertschätzt, das für 19 Wochen sein Zuhause sein wird. Da Nikolas Migut gelernter Videojournalist ist, werden alle Vereinsaktionen mit der Kamera begleitet und die Filme auf die StrassenBLUES-Homepage gestellt. Dort findet sich auch Paddys Einzug ins bedpark – ein Hotel an der Stresemannstraße, das nicht zum ersten Mal Obdachlose beherbergt und dessen Mitarbeiter daher keinerlei Berührungsängste haben. Aufmerksam und respektvoll ist ihr Umgang mit Paddy. Als ihm die Zimmerkarte überreicht wird, mit der er seine Tür öffnen kann, sagt Paddy: „Das ist wie sechs Richtige im Lotto. Und Zusatzzahl!“ Zum letzten Mal hatte er einen Haustürschlüssel, als er zur Untermiete wohnte. Das ist siebeneinhalb Jahre her. „Jetzt bin ich zwar noch wohnungslos, aber nicht mehr obdachlos“, sagt Paddy, „das ist ein Riesenunterschied. Für mich ist das ein neuer Lebensabschnitt.“

„Es kann wirklich jeden erwischen“

Wie Menschen denken können „der ist doch selber schuld“, wird Nikolas Migut nie verstehen. „Krankheit, Jobverlust, Armut können ihnen auch passieren. Es kann jeden erwischen“, ist er sich sicher. Seit er 2012 den Obdachlosen Alex zufällig am Berliner Bahnhof Zoo traf, hat ihn das Thema nicht mehr losgelassen. Alex, vom Alkohol gezeichnet, schmutzig, verwahrlost und hoffnungslos, lebte zu diesem Zeitpunkt seit acht Jahren auf der Straße. Ein Beziehungsende ließ ihn ins Bodenlose stürzen, bis er seine Wohnung verlor. Aber der Mann „mit den funkelnd blauen Augen fesselte mich so sehr, dass ich beschloss, mit ihm mitzugehen“, erzählt Migut. Er drehte einen Kurzfilm über Alex, verlor ihn aus den Augen und fand ihn in Neumünster wieder, wo Migut ihn in seiner Sozialwohnung besuchte. Es stellte sich heraus: Alex war ein Poet – von dem kein Verlag etwas wissen wollte.

Der Poet Alex Bösebub
Der Poet Alex Bösebub wohnt nach einem Leben auf der Straße heute in einer Sozialwohnung in Neumünster Foto: David Diwiak

Durch diese Begegnung entstand bei Nikolas Migut der Herzenswunsch, sich künftig für Obdachlose zu engagieren. 2016 gründete er zusammen mit seiner Frau Milena den Verein StrassenBLUES e.V., der absichtlich nur 15 Mitglieder hat, um schnellere Entscheidungen treffen zu können. „Wir möchten zeigen, dass man auch als junge Familie mit Hauptjobs und kleinen Kindern engagiert ehrenamtlich tätig sein kann“, sagt Nikolas Migut. Seine Frau und er bilden den Vorstand, sprechen fast jeden Abend über den Verein und organisieren alles von ihrer 78 Quadratmeter-Wohnung in Bergstedt aus. Migut betont den starken Einfluss seiner Frau auf die Entwicklung des Vereins. „StrassenWAHL – auch Obdachlose haben ein Wahlrecht, das sie nutzen sollten, haben wir gemeinsam erarbeitet.“ Dafür wurde der Verein mehrfach ausgezeichnet. Das Hamburger Winternotprogramm reicht ihnen nicht: Sie wollen es schaffen, dass Menschen wie Paddy im April nicht wieder auf der Straße landen. Und für den nächsten Winter wünschen sie sich bessere Lösungen. „Ich möchte, dass sich die Sozialbehörde mit Experten an einen runden Tisch setzt“, sagt Migut. „Außerdem wünsche ich mir mehr Mitmenschlichkeit in der Gesellschaft – mal ein Lächeln auf der Straße, mal Wärme geben, indem man sich zehn Minuten Zeit nimmt und sich mit einem Obdachlosen unterhält.“

Nikolas und Milena Migut vom Verein StrassenBLUES aus Bergstedt
Nikolas und Milena Migut steuern ihren Verein StrassenBLUES von ihrer Privatwohnung in Bergstedt aus Foto: Katharina Meßmann

www.strassenblues.de
„Straßenblues“: Der 30-minütige, eindrucksvolle und sehr sehenswerte Film über Alex findet sich auf der Homepage des Vereins. Dort gibt es auch alle Infos über ehrenamtliche Tätigkeiten, Spendenmöglichkeiten und die Aktionen des Vereins.
„StrassenBUCH“: Mit Fotos von Rosalia Behnken und Gedichten von Alex Bösebub. Hardcover, 64 S., ISBN: 978-3-00-063185-6, 19,90 Euro zzgl. Versandkosten, www.strassenbuch.com

StraßenBLUES
Volker Mähl ist gleich am ersten Tag von der Straße ins Hotel bedpark gezogen Foto: David Diwiak

Last modified: 17. Dezember 2020

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